Geboren ohne Nase: Göttinger Forscher entschlüsseln genetische Ursache
Es ist eine äußerst seltene, angeborene Erkrankung mit einem besonders markanten Erscheinungsbild: Menschen mit einer sogenannten Arhinie haben keine oder eine nur rudimentär angelegte Nase. Bei manchen Betroffenen sind zusätzlich auch noch Auffälligkeiten der Augen vorhanden, dann sprechen Mediziner vom Bosma-Syndrom. Einem internationalen Forscherteam unter federführender Beteiligung der Arbeitsgruppe um Bernd Wollnik am Institut für Humangenetik der Universitätsmedizin Göttingen ist es nun gelungen, die bislang ungeklärte genetische Ursache der fehlenden Nasenentwicklung bei Patienten mit Arhinie und Bosma-Syndrom zu entschlüsseln. Gleichzeitig haben sie faszinierende Erkenntnisse über die ursächlichen molekularen Mechanismen gewonnen, die nun auch die künftige Entwicklung von neuen therapeutischen Ansätzen bei einer ganz anderen erblichen Erkrankung ermöglichen könnten. Die Ergebnisse der Studie sind jetzt im renommierten Fachjournal Nature Genetics erschienen.
In ihrer Studie untersuchten die WissenschaftlerInnen 14 PatientInnen mit Arhinie – weltweit wurden bislang weniger als 50 Betroffene beschrieben. Mit den neuesten molekulargenetischen Methoden des so genannten Next-Generation-Sequencing analysierten sie die proteinkodierenden Elemente aller jeweils etwa 19.000 Gene von Betroffenen und sie entdeckten, dass alle ihre PatientInnen eine krankheitsverursachende Veränderung in demselben Gen trugen. Diese Mutationen waren in der Erbinformation der PatientInnen jeweils neu entstanden, das heißt nicht von den Eltern vererbt.
Dass Mutationen in diesem Gen, SMCHD1, schwer wiegende Konsequenzen für die Gesundheit haben können, war bereits bekannt – allerdings wurden diese bislang nur im Zusammenhang mit einer gänzlich anderen Erkrankung beschrieben: Veränderungen in SMCHD1 hatte man bei Personen mit einer so genannten fazioskapulohumeralen Muskeldystrophie (kurz FSHD) Typ 2 nachgewiesen, einer angeborenen Muskelerkrankung, die in seltenen Fällen auch den Herzmuskel betreffen kann. Das Forschungsprojekt wurde daher auch durch den Sonderforschungsbereich 1002 „Modulatorische Einheiten bei Herzinsuffizienz“ unterstützt. „Die neuen genetischen Untersuchungen legten nun also nahe, dass Veränderungen in SMCHD1 je nach Art der Mutation völlig unterschiedliche Erkrankungen hervorrufen können, die ganz unterschiedliche Organsysteme und Gewebe betreffen“, sagt Dr. Gökhan Yigit, Nachwuchsgruppenleiter am Institut für Humangenetik, der maßgeblich an der Studie beteiligt war.
Zur weiteren Klärung dieses Phänomens führten die Forschergruppen aus Göttingen, Paris, Singapur und Melbourne mit ihren jeweiligen Kollaborationspartnern biochemische und weitere funktionelle Tests durch, die Aufschluss über die genauen Folgen der jeweiligen Mutationen geben und neue Einblicke in die Funktion des produzierten Proteins SMCHD1 liefern sollten. Diese Untersuchungen zeigten, dass die in ihrem Patientenkollektiv gefundenen Mutationen die Proteinfunktion steigern – damit entfalten sie eine entgegengesetzte Wirkung im Vergleich zu FSHD verursachenden Genveränderungen, denn diese führen zu einer Funktionseinschränkung des Proteins. Zu diesen Ergebnissen passt auch, dass beide Krankheitsbilder nicht gemeinsam auftreten, d.h. alle beschriebenen PatientInnen mit SMCHD1-Mutationen zeigen entweder eine Muskelerkrankung oder eine fehlende Nase. Die Art und funktionelle Konsequenz der Mutationen in SMCHD1 entscheiden also über das auftretende Krankheitsbild.
Die umfangreichen funktionellen Experimente zeigten nicht nur, dass SMCHD1 eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Nase zukommt, sondern sie lieferten auch neue Erkenntnisse zur allgemeinen Funktion von SMCHD1. Dieses neue Wissen wird sich nun, so hoffen die Forscher, auch als hilfreich erweisen bei der künftigen Entwicklung von neuen Ansätzen zur Therapie der Muskeldystrophie FSHD Typ 2. „Wir haben nun gelernt, wie und wodurch sich die Funktion des SMCHD1-Proteins steigern lässt“, sagt Bernd Wollnik, Direktor des Instituts für Humangenetik an der Universitätsmedizin Göttingen, “damit haben wir nun eine Grundlage, um neue innovative Therapien für diese schwere Muskelerkrankung zu entwickeln.“
De novo mutations in SMCHD1 cause Bosma arhinia microphthalmia syndrome and abrogate nasal development.
Gordon CT, Xue S, Yigit G, Filali H, Chen K, […] Javed A, Blewitt ME, Amiel J, Wollnik B, Reversade B
Nat Genet. 2017 Jan 9. doi: 10.1038/ng.3765. [Epub ahead of print]