Glasknochenkrankheit: Neu entschlüsseltes Gen liefert Hinweis auf möglichen Behandlungsansatz für PatientInnen

Extrem brüchige Knochen sorgen dafür, dass besonders Kinder, aber auch Erwachsene mit der auch als „Glasknochenkrankheit“ bezeichneten genetischen Erkrankung Osteogenesis imperfecta (OI) sehr leicht Frakturen erleiden, oft sogar ohne erkennbare Ursache. Die Erkrankung kann unterschiedlich schwer ausgeprägt sein und bei manchen Formen können auch weitere klinische Merkmale wie Kleinwuchs, Schwerhörigkeit, Skelettdeformationen, überdehnbare Gelenke, Kurzsichtigkeit u.a. hinzutreten. Es handelt sich um eine seltene Erkrankung, die 4 bis 7 von 100.000 Menschen betrifft. Man kennt zwar bereits verschiedene Gene, in denen Veränderungen zu einer gestörten Knochenbildung und zur Entstehung von OI führen können, dennoch bleibt bei einigen PatientInnen der ursächliche Gendefekt bislang ungeklärt.

Unter Federführung der Arbeitsgruppe um Prof. Bernd Wollnik, Direktor des Instituts für Humangenetik der Universitätsmedizin Göttingen, entdeckten WissenschaftlerInnen aus Deutschland, Brasilien, Portugal, England und der Schweiz nun ein neues Gen, das an der Entstehung der OI beteiligt ist. Bei fünf PatientInnen mit fortschreitenden Verformungen des Skeletts und bereits im Mutterleib oder vor dem zweiten Lebensjahr aufgetretenen multiplen Knochenbrüchen fanden sie Mutationen in einem neuen Gen: MESD. „Wir führten bei allen PatientInnen eine Exomsequenzierung durch, d.h. wir analysierten gleichzeitig alle kodierenden Bereiche aller 19.000 Gene der menschlichen Erbinformation. Zuvor hatten wir ausgeschlossen, dass Veränderungen in einem der bereits bekannten OI-Gene in Frage kamen. Dies war nicht der Fall, aber stattdessen trugen alle betroffenen Kinder jeweils eine Mutation in beiden Kopien des MESD-Gens. MESD wurde bislang noch mit keiner Erkrankung beim Menschen in Verbindung gebracht, aber wir wussten, dass es für den WNT-Signalweg wichtig ist. Damit hatten wir einen sehr viel versprechenden Kandidaten“, erläutert Bernd Wollnik.

Dieser Signalweg ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen Molekülen, die u.a. die Embryonalentwicklung, die Zelldifferenzierung und die Zellteilung regulieren. Das vom MESD-Gen kodierte Protein agiert dabei nicht direkt im WNT-Signalweg, sondern es sorgt indirekt über bestimmte Domänen in seiner Struktur als so genanntes Chaperon dafür, dass spezifische WNT-Rezeptormoleküle, LRP5 und LRP6, die für ihre korrekte Funktion erforderliche Proteinfaltung einnehmen und in der Zelle vom Endoplasmatischen Retikulum zur Zellmembran gelangen.

In Experimenten mit unterschiedlichen Zellmodellen untersuchten die ForscherInnen dann, wie sich die gefundenen Mutationen auf Zellebene auswirken. Dabei zeigte sich, dass diese aufgrund ihrer spezifischen Lage innerhalb des Proteins zwar die Funktion von MESD herabsetzen, sie aber nicht komplett ausschalten. Dass der WNT-Signalweg eine Rolle für Knochenwachstum und -stärke spielt, war bereits belegt. Auch die Arbeitsgruppe um Bernd Wollnik hatte schon vor einigen Jahren nachgewiesen, dass mit WNT1 ein Baustein dieses Signalwegs für die Knochenbildung und die Funktion von Knochenzellen relevant ist.

Eine Heilung der OI ist bislang nicht möglich. Ihre Behandlung stützt sich auf die operative Behandlung, Physiotherapie und die medikamentöse Gabe von Bisphosphonaten. Bei den PatientInnen der aktuellen Studie zeigte ein Behandlungsversuch mit Bisphosphonaten jedoch keinen Erfolg. Für Bernd Wollnik eröffnen sich durch die Studienergebnisse auch im Hinblick auf die Behandlung neue Perspektiven: „Unsere Zellexperimente liefern uns einen Hinweis auf einen möglichen neuen Behandlungsansatz: Wirkstoffe, die den WNT-Signalweg aktivieren, könnten sich demnach eventuell als Therapie für bestimmte PatientInnen eignen.“ Ein derartiges Medikament existiert heute bereits und wird bei PatientInnen mit altersassoziierter Osteoporose eingesetzt, um die Knochenbildung und -masse zu steigern.

Die Arbeitsgruppe um Bernd Wollnik am Institut für Humangenetik in Göttingen arbeitet intensiv an der Entschlüsselung ursächlicher Genveränderungen und molekularer Grundlagen von seltenen Erkrankungen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind dabei insbesondere Erkrankungen mit frühzeitig einsetzenden Alterungsprozessen (Progerien), Mikrozephalien sowie die biologischen Prozesse, die zur Instabilität des Genoms führen.

Die Ergebnisse der aktuellen Studie wurden im renommierten Fachjournal American Journal of Human Genetics veröffentlicht.

Autosomal Recessive Mutations in MESD Cause Osteogenesis Imperfecta.
Moosa S, Yamamoto GL, Garbes L, Keupp K, Beleza-Meireles A, Moreno CA, Valadares ER, de Sousa SB, Maia S, Saraiva J, Honjo RS, Kim CA, Cabral de Menezes H, Lausch E, Lorini PV, Lamounier A Jr, Carniero TCB, Giunta C, Rohrbach M, Janner M, Semler O, Beleggia F, Li Y, Yigit G, Reintjes N, Altmüller J, Nürnberg P, Cavalcanti DP, Zabel B, Warman ML, Bertola DR, Wollnik B, Netzer C.
Am J Hum Genet. 2019 Sep 20. pii: S0002-9297(19)30312-X. doi: 10.1016/j.ajhg.2019.08.008. [Epub ahead of print]

 

 

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